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Was wir aus dem Untergang der DDR lernen können

Wie bemißt sich der Wert von komplizierter Arbeit? Der Facharbeiter war in der DDR ein anerkannter Mensch. Er blieb dennoch nur Lohnarbeiter.
Im Bild Schneckenschleifer Günter Knöbel 1986 im VEB Zahnschneidemaschinenfabrik MODUL. Foto: H. Lorenz

Woran die DDR wirklich zugrunde ging

Vom Anfang und Ende der Entfremdeten Arbeit

Folgt man heutigen „populären Erklärungsmustern“, so soll die DDR an grundsätzlich drei Fehlern zugrunde gegangen sein. Erstens an der fehlenden Demokratie. Zweitens an der zentralistischen Planung der Volkswirtschaft. Und drittens an der „Raubtier-Natur“ des Menschen. Doch alle drei Begründungen bleiben oberflächliche Begründungen. Das hat seinen Grund: Denn die heute Herrschenden wollen die Wahrheit überhaupt nicht wissen. Denn diese würde neue Horizonte für eine zukünftige Welt eröffnen.

Es war Karl Marx, der herausfand, daß die menschliche Geschichte die Höherentwicklung der Produktivkräfte und den dazu passenden Prodduktionsverhältnissen zur Basis hat. Zusammen bestimmen sie den gesamten politischen Überbau. Sein Satz: „Letztlich löst sich jede Ökonomie in der Ökonomie der Zeit auf“, bildet den Dreh- und Angelpunkt jeglichen ökonomischen Verständnisses von solchen Begriffen wie „Effizienz“, „Arbeitsproduktivität“, „Reichtumsvermehrung“ und wie der ganze bürgerliche Begriffsapparat sich noch so nennt, der aber einfach mit dem proletarischen Begriff „Arbeitshetze“ treffender beschrieben werden kann. Doch Karl Marx wäre nicht Karl Marx, wenn er bei dieser beschränkten Sichtweise stehengeblieben wäre. Was Marx mit diesem Satz wirklich meint, ist, daß wir alle darüber nachdenken sollten, wie, auf welche Weise und mit welchem Ziel die Menschheit ihr unvergleichliches Arbeitsvermögen einsetzen will.

Zeit ist das einzige, was die Menschheit im Überfluß besitzt! Diese Erkenntnis muß man erst mal „sacken“ lassen, denn sie stellt unser heutiges, hektischer Lebensverständnis vollkommen auf den Kopf. Doch es ist wirklich so. Im urgesellschaftlichen Matriarchat wie auch in den wenigen noch heute fernab aller „Zivilisation“ existierenden Matriarchate, besonders in Äquatornähe, spielt Zeit als Antrieb keine Rolle. Sie ist nur Taktgeber von Tag und Nacht. Der Grund dafür, daß die „Zeit“ uns ständig im Nacken sitzt, liegt in der Zivilisation selbst. Die Zivilisation hält den Klassenkampf auf Sparflamme, der durch die Teilung der Arbeit in die Welt kam (Der Ackerbauer Kain erschlug seinen Bruder, den Viehzüchter Abel). Staatliche Macht sollte den Streit in der nunmehr geteilten Gesellschaft schlichten. Die Zivilisation bedeutete das festgeschriebene Ende der urgesellschaftlichen Gleichheit, denn sie war zugleich der Anfang aller Klassengesellschaften. Die privaten Eigentumsverhältnisse bestimmten von nun an die gesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse. So betrachtet ist die Zivilisation nichts anderes als ein notwendiges Übel zur hemmungslosen Entwicklung der Produktivkräfte.

Der Kapitalismus ist es schließlich, der am hemmungslosesten die gesellschaftlichen Produktivkräfte entwickelt, ohne Rücksicht auf Mensch und Natur. Zeit ist Geld, heißt es im Kapitalismus. Doch Zeit ist nur Zeit und nicht Geld. Zeit kann nur dort als Geld betrachtet werden, wo aus Geld Kapital werden darf. Das Kapital beschert seinem Besitzer unentgeltlich Reichtum, da ihm die Mehrarbeit seiner Lohnarbeiter nichts kostet. Der Kapitalist raubt seinen Lohnarbeitern die Lebenszeit und die Lebenskraft. Des einen Verlust ist des anderen Gewinn. Darauf beruht seit jeher die „Reichtumsproduktion“. Oder anders ausgedrückt: Wo Reichtum herrscht, sind die Massen arm dran.

Der Marxsche Begriff der Entfremdeten Arbeit bringt das Dilemma aller Ausbeutergesellschaften auf den Punkt: Diejenigen, die arbeiten, erwerben nicht; und diejenigen, die erwerben, arbeiten nicht. Die Mühsal des einen wird so zur Freude des anderen, der gegenseitige Haß der antagonistischen Klassen damit endlos. Die Entfremdete Arbeit stellt somit den Gordischen Knoten dar, in dem alle Widersprüche der bisherigen Klassengesellschaften unlösbar miteinander verwoben sind. Die Zerschlagung des Gordischen Knotens, also die Lösung des Problems der Entfremdeten Arbeit, muß deshalb zur Hauptaufgabe einer zukünftigen klassenlosen Gesellschaft werden. Der freudlose Untergang des gewesenen Sozialismus jedenfalls war die Quittung für die andauernde Ignorierung dieses Problems. Was sind die Gründe der Entfremdeten Arbeit und was ihre Folgen? Der Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat veränderte die Eigentumsverhältnisse durch die neue Erbschaftsfolge vollständig, die von der gemeinsamen Sippe auf die leiblichen Kinder des Patriarchen überging. Über kurz oder lang mußten so verschiedene Klassen von Menschen entstehen, die sich in der Hauptsache durch Besitz oder Nichtbesitz an Produktionsmitteln voneinander unterschieden. 

Die juristische Anerkennung des Privateigentums an Produktionsmitteln durch den inzwischen entstandenen Klassenstaat schrieb die Trennung eines Teils der Produzenten von den Produktionsmitteln fest. Dies ist der Grund für die Entfremdung der Produzenten von ihrer Arbeit und vom Produkt ihrer Arbeit. Die Folgen der Entfremdung jedoch sind sehr viel verzweigter. Sie sind auf beiden Seiten der Klassen sowie auf Seiten der Produktion und der Konsumtion zu finden.

Der patriarchalische Despot, der Sklavenhalter, der Feudalfürst und auch der Kapitalist bestimmen über die Ziele der Produktion. Sie sagen, was produziert wird und wieviel davon produziert wird. Der Bewässerungsbauer, der Sklave, der Leibeigene und der Lohnarbeiter haben zu machen, was ihnen vom Produktionsmittelbesitzer gesagt wird. Widerreden werden bestraft. Die Arbeitenden gehen die Produktionsziele nichts an, sie sind von allen Entscheidungen darüber vollständig ausgeschlossen. Da sie ausgeschlossen sind, machen sie sich darüber auch weiter keine Gedanken. Ihnen wird es egal, was sie produzieren und wie sie produzieren. Diese Entfremdung von ihren Arbeitsbedingungen wird immer stärker mit der Fortentwicklung der Ausbeutergesellschaften. Im Kapitalismus erreicht sie ihren Höhepunkt. Der Lohnarbeiter will nicht wissen, was er produziert und für wen er produziert. Ihn interessiert nur, wann die Arbeit beginnt, wann sie endet, wie hoch der Lohn ist, auf welche Verfehlungen es Lohnabzüge gibt und weitere ihn persönlich betreffende Bedingungen wie Arbeitsweg, Art der Arbeit, Vergünstigungen, Urlaubstage etc. pp.

Die Entfremdung des Arbeiters ist aber eine doppelte. Ihm ist nicht nur seine Arbeit fremd und das Produkt seiner Arbeit, ihm sind auch die Produkte anderer Produzenten fremd. Ihn kümmert es nicht, wer die Lebensmittel hergestellt hat, die er täglich verzehrt. Ihn interessiert auch nicht, wie diese Lebensmittel hergestellt wurden. Ihn interessiert nur, kann er sich diese Lebensmittel für seine Lohnsumme leisten oder nicht. Wenn er dennoch über all das nachdenkt, denkt er nicht als Lohnarbeiter darüber nach, sondern als Mensch. Damit hat er sich quasi schon über seinen Lohnarbeiterstatus erhoben, in den er durch das Kapitalverhältnis erniedrigt wird. Die Entfremdung schlägt aber genauso auf der Seite der Kapitalisten zu. Einen Kapitalisten interessiert es noch weniger als den Lohnarbeiter, was er produziert, oder besser gesagt, produzieren läßt. Ihn interessiert nur, ob er seine Waren mit Profit losschlagen kann und wie hoch der Profit ausfallen wird. Das Schlimme darin ist, daß der Kapitalist als der große Lenker der Produktion erscheint, als der Vorausahner zukünftiger Bedürfnisse stets bedürftiger Menschen, als der Wohltäter an der Welt, er in Wirklichkeit aber die größte Destruktivkraft ist (Konkurrenzkampf, „Freihandel“, „freier“ Kapitaltransfer, „freier Arbeitskräftetransfer“).

Was hat das alles mit der DDR und ihrem Untergang zu tun? Ganz einfach. In der DDR wie in allen sozialistischen Ländern wurde das Kapital verstaatlicht, die Produktion also staatlich gelenkt und verwaltet mit dem Ziel eines Nutzens für die Gesamtgesellschaft. Es war der Staat, der das Gesamtziel nach einer mehr oder weniger konkreten Absprache mit der Bevölkerung festlegte. Die individuellen Bedürfnisse spiegelten sich hingegen im Volkswirtschaftsplan nicht wider. Das konnten sie auch gar nicht, weil individuelle Bedürfnisse sehr verschieden sind, besonders in einer hoch entwickelten Gesellschaft. Es ist unmöglich, zentral beim Staat zu bestimmen, wie z.B. ein Sommerkleid auszusehen hat, in welchen Größen und Stückzahlen es produziert werden soll, wie es im Lande verteilt wird usw. usf. Doch das Grundproblem im Sozialismus war das Fortbestehen der Lohnarbeit selbst. Wir erinnern uns: „Die Lohnarbeit produziert das Kapital, und das Kapital produziert die Lohnarbeit“. Das Fortbestehen der Lohnarbeit reproduzierte also immer wieder das Kapitalverhältnis und damit die Entfremdung von der eigenen Arbeit – die Gleichgültigkeit, ja den Haß auf die Arbeit und den Betrieb. Die Lohnarbeit stand also im Widerspruch zum sozialistischen Aufbau. Sie kollidierte immer wieder damit. Der sozialistische Lohnarbeiter dachte im Prinzip wie der kapitalistische Lohnarbeiter. Was ja auch gar nicht anders sein konnte. Denn Lohnarbeit bleibt Lohnarbeit. Was läßt sich für die Zukunft daraus lernen?

Keiner konnte so schnell und präzise Keilwellenprofile auf Passung schleifen wie Werner (X) im Fertigungsbereich 3 der Zahnschneidemaschinenfabrik MODUL. Werner schaffte jeden Monat eine 170-prozentige Normerfüllung. Andere erreichten kaum 60 Prozent. Foto. H. Lorenz

Tägliche Absprache der einzelnen Meisterbereiche der Mechanischen Fertigung bei Bereichsleiter Kurt Barthold im VEB MODUL. Das Karl-Marx-Städter Unternehmen war neben Gleason aus den USA Weltmarktführer auf dem Gebiet der Verzahnungstechnik: Spezialgebiet waren Werkzeugmaschinen für hartverzahnte Kegelräder mit Kurvex-Verzahnung neben Schneckenrad- und Stirnradverzahnungen mit bis zu 10 Metern Durchmesser. Foto: Holger Lorenz

Das gesellschaftliche Arbeitsvermögen wächst mit der Anzahl der arbeitenden Menschen und es wächst noch mehr mit der Produktivität der Arbeit. Die Menschheit im Sozialismus hat disponible Zeit im Überfluß. Wie sie diese Zeit verwendet, ist die alleinige Entscheidung der Menschheit selbst, niemand redet ihr da hinein. Die Menschheit muß sich nur als eine Einheit verstehen und sich endlich darüber klar werden, wie und wofür sie diese Zeit verwenden will, ob für eine Massenproduktion und die Vermüllung der Erde und der Meere, oder ob sie dieses Arbeitsvermögen so disponiert, daß die Menschheit menschlicher und somit klüger und die Erde samt der Meere wieder sauberer wird.

Wie aber disponiert man die viele Zeit so, daß die nachfolgenden Generationen eine saubere und vielfältige Welt vorfinden? Ganz einfach: Indem die Menschheit wieder mehr lebt und immer weniger lohnarbeitet. Aber wie lebt man mehr, wie lebt man besser? Das geht nur, indem die Lohnarbeit und mit ihr das Kapitalverhältnis endlich aufgehoben wird. Dazu müssen sich die Produzenten wieder die Ergebnisse ihrer Arbeit aneignen können. Sie müssen demnach selbst bestimmen, was sie produzieren, wie sie es produzieren, in welchen Mengen und Qualitäten sie produzieren und nicht zuletzt, wie die produzierten Dinge wieder zurück in den Produktionskreislauf gelangen können, um die Abfallberge auf dieser Welt endlich zu beseitigen. Das aber geht nur in einem Kreislaufsprozeß und Entscheidungen vor Ort, durch kollektive Absprachen in den Städten und Gemeinden und zwischen den Städten und Gemeinden.

Die gemeinschaftliche Arbeit ist der Lebensprozeß der Menschheit. Es geht also im Sozialismus nicht wie im Kapitalismus um eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine Verlängerung der Freizeit (Gewerkschaft), sondern um eine stufenweise Verkürzung der Lohnarbeit und als Ausgleich eine selbstbestimmte gesellschaftliche Arbeit in der eigenen Stadt oder Gemeinde. Wenn Arbeit keine Ausbeutung mehr ist, sondern erstes Lebensbedürfnis, dann spielt die Zeit der geleisteten Arbeit keine Rolle mehr. Arbeitszeit ist dann Lebenszeit und diese steht für die gesamte Menschheit unbegrenzt zur freien Verfügung. Hier findet also ein Umschlag von einer Qualität der Arbeit in eine neue Qualität statt. Von nun an muß die Arbeit nicht mehr wie im Kapitalismus beständig reduziert und durch Maschinen ersetzt werden. Jetzt kann wieder mehr Arbeit verausgabt werden, dafür aber mehr Eisen, Stahl, Kohle, Erdöl, Verkehr oder Lagerhaltung eingespart werden. In der ausbeutungsfreien Gesellschaft arbeiten wieder alle Menschen, auch die Arbeitslosen und die einstigen Kapitalisten. Dadurch wird mehr Arbeit verrichtet. Wenn diese dann noch ständig neu verteilt wird, wird sie für alle abwechslungsreicher und so auch schwere Arbeit leichter erträglich. Nichts macht mehr Spaß im Leben als gemeinsam zu arbeiten an einem gemeinsamen Projekt für eine gemeinsame Aneignung der Ergebnisse dieser Arbeit. 

Selbst die beschissenste Arbeit wie das Reinigen von Kloschüsseln oder Pißbecken macht Spaß, wenn sie gemeinsam erledigt wird und nicht tagtäglich erledigt werden muß, wie das beim Beruf einer Klofrau heutzutage der Fall ist. Nicht die immer weiter wachsende Spezialisierung von Arbeit ist die Zukunft, sondern die abwechslungsreiche Kombination von verschiedenen Arbeiten unter immer wechselnden Arbeitsgruppen. Wie dies dann konkret zu regeln ist, wird einstimmig wie im Matriarchat in den Arbeitsgruppen und zwischen den Gruppen innerhalb einer lokalen Gemeinschaft festgeleg

Diese neue Art der kombinierten gesellschaftlichen Arbeit schafft völlig neue Möglichkeiten des Lebensgenusses. Nach einhundert Jahren industrieller Landwirtschaft wird es unendlich viel Mühe kosten, die Böden wieder fruchtbar zu machen. Dieses Fruchtbarmachen geht nur ganz schlecht mit maschineller Arbeit. In die Böden müssen Bestandteile eingebracht werden, die Wasser und Nährstoffe speichern. Ein Verfestigen der Böden durch schwere Maschinen muß vermieden werden. Kurz, hier ist Handarbeit vonnöten. Damit diese Arbeit Spaß macht, muß sie von vielen Menschen gleichzeitig getan werden. Man spornt sich gegenseitig an, man erzählt sich Witze und andere „wahrhafte Begebenheiten“, man macht gemeinsam Frühstück und schaut sich dabei den Partner für die Nacht aus, kurz, man lebt seine Arbeit, weil die Arbeit pralles Leben ist. So vergeht der Tag in sinnvoller Eintracht. Und am Ende wird ein großes Fest gefeiert. Nicht einen Tag, nicht zwei Tage, nicht drei Tage, sondern gleich eine ganze Woche lang. Leben ist Arbeiten und der Genuß an der Arbeit ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Die Wiederaneignung der Arbeit als erstes Lebensbedürfnis muß kein jahrhundertelanger Prozeß sein. Vielleicht finden die Nachgeborenen daran schneller Gefallen, als wir uns das heute vorstellen können.

Was die heutige große Industrie betrifft, wird diese selbst unter kapitalistischen Bedingungen weiter schrumpfen, weil die neuen Technologien weniger Materialeinsatz erfordern und die Industrie insgesamt in Richtung Miniaturisierung verläuft. Die neue sozialistische Gesellschaft dagegen wird die große globalisierte Industrie abschaffen und durch eine selbstbestimmte regionale Produktion entsprechend der Größe der Verwaltungseinheiten (Großstadt oder Kleinstadt) sowie den geographischen und klimatischen Besonderheiten ersetzen.

Ein neues, sozialistische Motto müßte lauten: „Globalisierung allen Wissens, Regionalisierung aller Arbeit.“ Dies ist zu erreichen durch eine permanente Reduzierung der Lohnarbeit bei gleichzeitiger Erweiterung der gesellschaftlichen Arbeit in den Städten und Gemeinden. Ob das ohne Klassenkampf von unten jedoch zu erreichen ist, hängt von der Reaktion der Kapitalseite ab.

Holger Lorenz am 28. März 2020